Überblick

MaikeDohrn85x115Written by Maike Dohrn, MD
RWTH Aachen University Hospital, Aachen, Germany

 

 

 

Was sind Neuropathien?

Als periphere Neuropathie bezeichnet man die Beschädigung verschiedener Nerven, die außerhalb von Gehirn und Rückenmark (zentrales Nervensystem) durch den Körper laufen. Neuropathien sind insgesamt sehr häufig. Es wird geschätzt, dass 8% der Weltbevölkerung an einer Neuropathie erkranken. Die weltweit häufigsten Ursachen sind Diabetes mellitus in den Industriestaaten, Lepra in tropischen Ländern und HIV/AIDS. In den vereinigten Staaten von Amerika gibt es mehr als 40 Millionen Menschen, die an einer Neuropathie leiden, und die Gesundheitskosten erreichen mehr als vier Milliarden US Dollar pro Jahr. Im Alter von über 40 Jahren liegt die Häufigkeit einer Neuropathie über 10%, bei Diabetikern mit rund 50% aber deutlich höher, und nach einer Chemotherapie sind es etwa 20%. Die Anzahl der Neuropathiepatientinnen und -patienten steigt mit zunehmendem Alter der Bevölkerung, mit zunehmender Zahl metabolischer Erkrankungen wie Diabetes und Übergewicht sowie längerer Überlebensdauer nach Krebs- und Infektionskrankheiten. Andere wichtige Ursachen sind der schädliche Gebrauch von Alkohol oder ein Mangel z.B. an Vitamin B12. Als seltene Neuropathieformen gelten erbliche und Immunneuropathien, deren mannigfältige Ursachen derzeit Gegenstand intensiver Forschung sind. Es ist wichtig, dass Neuropathien frühzeitig erkannt und vor allem die behandelbaren bzw. behandlungsbedürftigen Ursachen identifiziert werden. Basierend auf anatomischen Grundprinzipien unterscheiden wir Kleinfaserneuropathien, meist Small Fiber Neuropathien genannt, und Großfaser- oder gemischte Polyneuropathien.

Die Anatomie der Neuropathien

Das Zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus Gehirn und Rückenmark. Es liegt geschützt von knöchernen Strukturen innerhalb des Schädels und der Wirbelsäule. Das Gehirn ist sozusagen die Steuerzentrale, die Botschaften empfängt und generiert, die dann mit dem peripheren Nervensystem (PNS) ausgetauscht werden. Diese peripheren Nerven laufen wie elektrische oder Telefonkabel durch den Rest des Körpers und machen so auch über längere Distanzen die Kommunikation zwischen dem Gehirn z.B. mit Muskeln, Haut und inneren Organen möglich.

Jede Nervenzelle (Neuron) hat verschiedene Anteile. Der Zellkörper (Soma) enthält den Zellkern (Nucleus) und die Maschinerie, die Moleküle und Ogranellen herstellt und deren Transport zu den entfernten Enden des Neurons z.B. an Händen und Füßen initiiert. Im peripheren Nervensystem (PNS) sind die Zellkörper nah am Übergang zum zentralen Nervensystem (ZNS) lokalisiert, das heißt, meist in der Nähe des Rückenmarkes. Der lange, dünne Anteil des Neurons, der das rumpfnah gelegene Soma mit den rumpffernen Körperregionen verbindet, wird Axon genannt. Man kann sich ein Axon wie einen Draht vorstellen, der dafür da ist, Botschaften über längere Distanzen weiterzuleiten. Gleichzeitig sind Axone auch Transportstrukturen, an denen Moleküle und Organellen wie in einem Tunnel entlangwandern können.

Small und Large Fiber Neuropathien

 Die Dicke einer Nervenfaser hat Einfluss auf ihr Leitverhalten. Ein weiterer entscheidender Einflussfaktor ist die Isolierung. Abhängig von ihrem Querdurchmesser (Richtgröße: 5 Mikrometer) werden Nervenfasern in kleine („small fibers“) und große Nervenfasern („large fibers“) eingeteilt. Die großen Nervenfasern sind typischerweise von fetthaltigen Isolierscheiden (Myelin) umgeben, die es aufgrund ihrer isolierenden Eigenschaft ermöglichen, elektrische Signale wesentlich schneller zu leiten als kleine, kaum oder unmyelinisierte Nervenfasern. Große Nervenfasern sind für die Ansteuerung von Muskeln zuständig. Gleichzeitig übermitteln sie Informationen über Berührung, Vibration und Gleichgewicht aus der Peripherie an das Gehirn. Kleine Nervenfasern leiten Informationen zu den sensiblen Qualitäten Schmerz, Temperatur, Jucken und grober Druck. Auch an der Regulation des vegetativen/autonomen Nervensystems, das heißt der Regulation innerer Organe, sind die kleinen Nervenfasern beteiligt.

Motorische, sensible und autonome Neuropathien

Auch im peripheren Nervensystem (PNS) haben verschiedene Zelltypen verschiedene Aufgaben. Motorische Nervenfasern verbinden das Gehirn mit der Muskulatur und vermitteln so den Befehl zur Kontraktion. Sensible Nervenfasern informieren das Gehirn über verschiedenste Sinneseindrücke im Körper. Während im Englischen für alle Sinnesqualitäten das Wort „sensory“ verwendet wird, unterscheidet die Deutsche Sprache sensible Reize wie Berührung, Temperatur, Schmerz, Vibration und Lagesinn und sensorische Reize wie Geschmack, Geruch, Sehen und Hören. Durch Neuropathien werden sehr häufig sensible und nur sehr selten sensorische Symptome verursacht. Autonome Nervenfasern regulieren die Eng- und Weitstellung von Blutgefäßen, die Aktivität von Drüsen (z.B. Schweißdrüsen), aber auch von Organen des Magen-Darm-Traktes, der Harnblase und der Sexualorgane. Kleine Nervenfasern sind an der Regulation von Entzündungsprozessen (neurogene Inflammation) beteiligt und nehmen durch Sekretion chemischer Mediatoren Einfluss auf die Mineralisierung und damit die Festigkeit von Knochen.

Symptome einer Neuropathie

Das durch Neuropathien verursachte Beschwerdebild hängt maßgeblich davon ab, welche Faserqualitäten vor allem betroffen sind. Typischerweise (aber nicht immer) beginnen die Symptome an den Zehen und Fingerspitzen, was daran liegt, dass die hier gelegenen Nervenabschnitte aufgrund ihrer Entfernung zum Zellkörper am empfindlichsten für Schädigung sind.

Motorische Neuropathiesymptome

sind Muskelschwäche, Lähmungen, Muskelkrämpfe, Muskelzuckungen (Faszikulationen) und eine Verschmächtigung der Muskulatur (Muskelatrophien). Sie kommen dadurch zustande, dass durch Schädigung entsprechender Nervenfasern vom Gehirn entworfene Bewegungspläne nicht mehr korrekt an die Muskulatur vermittelt werden. Da hierfür die myelinisierten „large fibers“ zuständig sind, können die genannten Symptome durch eine reine Small Fiber Neuropathie nicht hinreichend erklärt werden. Gelegentlich auftretende Muskelkrämpfe oder -zuckungen können auch bei Gesunden auftreten und haben dann keinen Krankheitswert.

Sensible Neuropathiesymptome

werden typischerweise in „negative“ oder auch „Minussymptome“ und „positive“ oder auch „Plussymptome“ unterteilt. Minussymptome bilden die verminderte Fähigkeit beschädigter Neurone ab, bestimmte Informationen an das Gehirn weiterzuleiten. Beispiele sind Taubheitsgefühle, ein reduziertes Temperaturempfinden, eine verminderte Schmerzempfindlichkeit oder Gleichgewichtsstörungen vor allem bei Dunkelheit oder auf unebenem Boden (sensible Ataxie). Ein sensorisches Minussymptom ist beispielsweise Schwerhörigkeit (sensorineurale Hörminderung). Plussymptome entstehen, wenn sensible Neurone zu unpassenden Zeitpunkten feuern bzw. falsche Botschaften weiterleiten, ohne dass ein entsprechender Reiz vorliegt. Beispiele sind typischerweise als brennend, stechend oder elektrisierend wahrgenommene neuropathische Schmerzen, Kribbelgefühle oder Juckreiz, die manchmal durch harmlose Berührungsreize (z.B. Bettdecke) ausgelöst werden, zum Teil aber auch in Ruhe auftreten.

Autonome Neuropathiesymptome

können sehr unterschiedlich ausfallen, abhängig davon, welches Organ betroffen ist. Sind zum Beispiel Nerven geschädigt, die das Herz oder die Blutgefäße versorgen, dann kann es typischerweise in aufrechter bzw. stehender Position zu Kreislaufstörungen mit erniedrigtem oder schwankendem Blutdruck kommen oder aber zu Auffälligkeiten der Herzfrequenz, typischerweise mit beschleunigtem Herzschlag (Tachykardie). Betroffene erleben typischerweise Schwindel- und Schwächegefühle oder aber Schwarzwerden vor Augen. Ist der Magen-Darm-Trakt betroffen, dann werden typischerweise Völlegefühle, Übelkeit und Erbrechen, meist nach dem Essen, beschrieben, häufig aber auch Durchfälle, Verstopfung oder der Wechsel aus beidem. Es können auch die Harnblase oder die Sexualorgane betroffen sein, was sich durch Störungen der Kontinenz und Potenz äußert.