Ursachen

Written by Maike Dohrn, MD, RWTH Aachen University Hospital, Aachen, Germany

Welche Ursachen gibt es für Neuropathien?
Diabetes mellitus

Aufgrund der hohen Prävlenz des Diabetes mellitus in der älter werdenden Bevölkerung ist dieser die häufigste Neuropathieursache in den Industrienationen. Etwa die Hälfte aller Diabetiker entwickelt eine Neuropathie. Typische Frühsymptome sind Brennschmerzen, Juckreiz oder Taubheitsgefühle an Händen und Füßen, was häufig als „handschuhförmige“ bzw. „strumpfförmige“ Verteilung bezeichnet wird. Es sind darüber hinaus aber auch andere Neuropathieformen bekannt. Zur Therapie der diabetischen Neuropathie muss erstens eine bestmögliche Blutzuckerkontrolle angestrebt werden. Zweitens stehen symptomlindernde Maßnahmen wie z.B. Medikamente gegen neuropathische Schmerzen zur Verfügung. Zur Vermeidung von Komplikationen wie dem Diabetischen Fußsyndrom sind fußpflegende Maßnahmen und Physiotherapie sinnvoll. Für einen detaillierteren Überblick zu Ursachen und Klinik der diabetischen Neuropathien in deutscher Sprache verweisen wir z.B. auf diesen aktuellen Review.

Krebserkrankungen

Verschiedene Krebserkrankungen können als Begleitphänomen eine Neuropathie verursachen. Meistens entstehen diese Neuropathien durch überschießende Reaktionen des Immunsystems auf Tumorstruktureiweiße, die der Nervenoberfläche ähneln (paraneoplastische Neuropathien). Bei bestimmten Formen von Lymphodrüsenkrebs (Lymphom) werden durch die Krebszellen selbst Eiweiße produziert (monoklonale Gammopathie), die die Nerven angreifen können. Auch im Rahmen einer Krebstherapie kann eine Neuropathie verursacht werden. Beispiele hierfür sind Medikamente wie Vincristin, Paclitaxel, Cisplatin, Bortezomib oder Immuncheckpoint Inhibitoren. Die Therapie solcher Neuropathien stellt in erster Linie die bestmögliche Kontrolle der Grunderkrankung dar. Manchmal sind immunmodulierende Medikamente wir Kortikosteroide hilfreich.

Vitaminmangel oder-überdosierungVitamin90HWhite

Vitamine wie B1, B6 und B12 sind essentiell für den Stoffwechsel von Nervenzellen. Bei einem Mangel kommt es entsprechend zu einer Schädigung. Die Überdosierung von Vitamin B6 kann auf der anderen Seite aber ebenfalls zu einer Neuropathie führen. Der unkritische Konsum von Vitaminkomplex-Tabletten oder hochdosierte Vitamin-Sportdrinks kann deshalb das Gegenteil vom gewünschten Effekt erwirken und krank machen. Zur Behandlung vitaminassoziierter Neuropathien sollte in erster Linie ein Ausgleich der Mangelsituation bzw. ein unverzüglicher Überdosierungsstop stattfinden.

AlcoholRelated85HWhite2Alkoholkonsum

Alkohol schädigt die Nerven auf zweierlei Weise: Erstens hat er selbst eine toxische Wirkung auf Nervenzellen, zweitens geht er typischerweise mit einem Vitaminmangelsyndrom (s.o.), was die Regenerationskapazitäten der Nerven einschränkt und sogar selbst zum Schaden beiträgt. Entsprechend haben viele Alkoholiker eine Neuropathie. Es ist davon auszugehen, dass bereits eine Alkoholmenge von > 1 Glas Wein pro Tag bei Männern und bei Frauen sogar noch geringere Mengen nervenschädigend wirken. Alkoholische Neuropathien werden am effektivsten durch strikten Alkoholverzicht behandelt. Wenn man aus anderen Gründen unter einer Neuropathie leidet, sollte nach Möglichkeit ebenfalls auf Alkohol verzichtet werden.

AutoimmunerkrankungenMuscleInflammation102White

Bei manchen Menschen bewertet das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Gewebsstrukturen als „fremd“ bzw. „feindlich“, was zu verschiedenen Autoimmunerkrankungen führen kann. Solche Erkrankungen können ein oder mehrere Organsysteme betreffen. Werden zum Beispiel die Isolierscheiden peripherer Nerven angegriffen, dann kommt es zu Krankheitsbildern wie dem akuten Guillain-Barré-Syndrom oder der Chronisch Inflammatorischen Demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP). Autoimmunsyndrome, die neben den Nerven auch andere Gewebsstrukturen betreffen sind zum Beispiel der Lupus erythematodes, die Rheumatoide Arthritis, das Sjögren-Syndrom, die Sarkoidose, verschiedene Vaskulitiden und andere. Zur Therapie solcher Autoimmunsyndrome kommen verschiedene immunsuppressiv wirksame Medikamente infrage. Typischerweise sind dies Kortikosteroise, zum Teil aber auch Immunglobuline oder gegen Immunzellen gerichtete Substanzen wie Azathioprin oder Rituximab. In kritischen Situationen kann eine Blutwäsche (Plasmapherese) durchgeführt werden.

Spencer102Neurotoxische Substanzen

Bestimmte Schwermetalle und Chemikalien können Nerven in ihrer Funktion beeinträchtigen oder sie auch strukturell schädigen. Beispiele für solche Substanzen sind Arsen, Blei, Cadmium und Quecksilber, Botulinum- oder Tetanustoxin sowie verschiedene Kohlenwasserstoffe, Acrylamide und Lösungsmittel. Es gibt auch Substanzen, die normalerweise nicht schädigend sind, bei Überdosierung aber ebenfalls eine giftige Wirkung entfalten. Beispiele hierfür sind Zink und Vitamin B6. Auf (potentiell) neurotoxische Medikamente gehen wir im nächsten Abschnitt ein. Therapie der Wahl ist immer die schnellstmögliche Entfernung der nervenschädigenden Substanz.

MedikamenteCholesterolMedicationBigWhiteCorner

Verschiedene Medikamente können die Symptome einer Neuropathie verstärken (z.B. cholinerg wirksame Substanzen wie Amitriptylin) oder die Nerven selbst schädigen. Beispiele für Medikamente mit neurotoxischen Nebenwirkungen sind z.B. das Antidiabetikum Metformin, das Antiarrhythmikum Amiodaron, die Antibiotika Metronidazol und Linezolid, das Malariamedikament Chloroquin, das Immunsuppressivum Tacrolimus, die stimmungsstabilisierende Substanz Lithium sowie verschiedene Chemotherapeutika (s.o.). Cholesterinsenkend wirksame Statine sind bezüglich ihrer Neurotoxizität umstritten und sollten in Zweifelsfällen nur bei strenger Indikation (z.B. nach Schlaganfall oder Herzinfarkt) eingesetzt werden.

Infektionskrankheiten

Einige bakterielle und virale Infektionen können durch direkte Schädigung der Nerven oder durch Überstimulation des Immunsystems Neuropathien verursachen. In einigen tropischen Ländern ist Lepra bis heute eine differentialdiagnostisch relevante Neuropathieursache. Etwa 10% aller Menschen, die sich mit dem Humanen Immundefizienzvirus (HIV) infiziert haben, entwickeln eine Neuropathie. Diese kann Ausdruck der Infektionskrankheit selbst sein, alternativ aber auch durch die antiretrovirale Dauertherapie (mit) verursacht sein. Andere mit Neuropathien assoziierte Infektionen sind Hepatitis C, Herpesviren vom Typ Varicella zoster (Windpocken) oder vom Typ Epstein-Barr (Pfeiffer’sches Drüsenfieber), Diphtherie und Lyme-Borreliose. Im Fall einer Borrelien-Infektion ist eine isolierte Polyeuropathie auch im Stadium 3 nicht typisch, häufiger ist sie hingegen bei gleichzeitigem Auftreten einer Acrodermatitis atrophicans, welche eine Hautmanifestation der Borreliose darstellt. In früheren Stadien einer (Neuro-)Borreliose können Hirnnervenausfälle oder Radikulopathien auftreten. Insgesamt richtet sich die Therapie solcher infektiös bedingter Neuropathien nach mikrobiologisch fundierter Diagnosesicherung jeweils nach dem Wirkspektrum antibiotisch/antiviral wirksamer Medikamente bzw. dem Resistogramm des spezifischen Keimes. Gegen Windpocken steht eine Impfung zur Verfügung.

Trauma/Kompression

Nervenkompression stellt ein physikalisches Trauma dar, das sich in Form eines Funktionsausfalls des jeweiligen Nerven äußern kann. Beispiele für ein akutes Nerventrauma sind stumpfe oder spitze Verletzungen bei Verkehrs- oder Sportunfällen. Auch ein Bandscheibenvorfall ist ein akutes bis chronisches Kompressionstrauma, das durch sich vorwölbende Zwischenwirbelscheiben mit Druck auf hier austretende Nervenwurzeln verursacht wird. Chronische Kompressionsituationen finden sich beim Karpaltunnel- und beim Loge-de-Guyon-Syndrom, welche jeweils durch übermäßiges Aufstützen der Handgelenke (z.B. bei Radfahrern oder bei vermehrter Tastaturarbeit) oder durch lokal raumfordernde Grunderkrankungen (z.B. Amyloidose) verursacht werden. Tumoren, Narben oder zu enge Gipsverbände können auch an sonst unüblicheren Körperstellen zu Nervenkompressionssyndromen führen. Menschen mit bestimmten genetischen Defekten (v.a. Deletion des PMP22-Gens) haben bereits bei vergleichsweise geringem äußeren Druck die Neigung, Nervenausfallsymptome zu entwickeln.

DNAMulticolorErbliche/genetisch bedingte Neuropathien

Erbliche Neuropathien stellen eine insgesamt sehr vielfältige Erkrankungsgruppe dar. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durch bestimmte angeborene Mutationen im Erbgut verursacht werden, die man sich wie Rechtschreibfehler im genetischen Bauplan betroffener Personen vorstellen kann. In vielen Fällen kann die Isolierschicht der peripheren Nerven nicht optimal ausgebildet werden, in anderen Fällen stehen die Axone der Nerven selbst im Zentrum des Krankheitsgeschehens. Es kann zum Beispiel sein, dass die Nervenfasern durch Expression falsch eingebauter Eiweiße überstimuliert werden oder dass der Transport notwendiger Stoffwechselprodukte vom rumpfnah gelegenen Zellkörper bis an die peripheren Enden der Nervenfasern nicht ausreicht. Manche erbliche Neuropathien werden durch Anhäufung nervenschädigender Stoffwechselprodukte verursacht.

Beispiele für erbliche Neuropathien sind die Charcot-Marie-Tooth Erkrankung, die Hereditäre Sensible und Autonome Neuropathie, der Morbus Fabry, die hereditäre Transthyretin-Amyloidose, der Morbus Krabbe und die metachromatische Leukodystrophie.

Viele dieser erblichen Neuropathien beginnen bereits in der Kindheit, es sind aber auch Spätmanifestationsformen bekannt. Mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche krankheitsverursachende genetische Veränderung an die Nachkommen weitervererbt werden kann, hängt maßgeblich vom Erbgang ab. Eine genetische Testung wird typischerweise dann empfohlen, wenn bestimmte klinische Merkmale wie z.B. Hohlfüße vorliegen oder wenn es mehrere Neuropathiefälle in der Familie gibt.

Einige erbliche Neuropathien wie der Morbus Fabry oder die Hereditäre Transthyretin-Amyloidose sind bereits ursächlich behandelbar. Um die Therapiemöglichkeiten auch der anderen Neuropathieformen zu verbessern, müssen neue genetische Ursachen identifiziert und Studien zu den Schädigungsmechanismen durchgeführt werden.

Erbliche Erkrankungen der Schmerzwahrnehmung

Eine wichtige Rolle bei der Schmerzwahrnehmung spielen spannungsgesteuerte Natriumkanäle, die im Falle einer Mutation zu einer übermäßigen bzw. unzureichenden Schmerzempfindlichkeit führen. Auch bei Gesunden sind spannungsabhängige Natriumkanäle an der Entstehung von Schmerzen maßgeblich beteiligt. Kommt es zum Beispiel zu einer Verbrennung oder Schnittverletzung, dann öffnen verschiedene solcher Ionenkanäle, und geladene Teilchen strömen in die Nervenzelle ein. Durch Änderung der Spannung werden dann spannungsabhängige Kanäle aktiviert, die diesen initialen Schmerzreiz in ein elektrisches Signal verwandeln. Der Nerv kann so, einem „Stromkabel“ gleich, den Schmerzreiz zum Gehirn weiterleiten.

Genetische Veränderungen, Mutationen, können dazu führen, dass spannungsabhängige Natriumkanäle ihre Funktionsweise ändern. Wir vermuten, dass ein verfrühtes, verlängertes oder verstärktes Aktivieren spannungsabhängiger Natriumkanäle zur Entstehung neuropathischer Schmerzen führt, auch wenn gar keine tatsächliche Gewebeverletzung vorliegt. Andersrum kann ein Funktionsverlust solcher Kanäle auch zu einer verminderten Schmerzwahrnehmung führen.

Andere Grunderkrankungen

Es gibt andere Erkrankungen, die zum Beispiel mit Funktionsstörungen der Nieren oder der Schilddrüsen einhergehen. Auch im Zuge solcher Erkrankungen kann es als Folge der gestörten Stoffwechselsituation zu Neuropathien kommen.